Morbus Menière und Tauchtauglichkeit – Risiken, Einschätzungen und Empfehlungen
Kann man trotz Morbus Menière tauchen? Diese Frage stellen sich viele Menschen, bei denen die Erkrankung diagnostiziert wurde, die aber über längere Zeit symptomfrei sind und gerne tauchen möchten. Gerade weil Tauchsport ein intensives Hobby ist, bei dem Ruhe, Konzentration und Gleichgewicht eine zentrale Rolle spielen, ist die medizinische Einschätzung entscheidend. Dieser Artikel bietet eine verständliche und umfassende Orientierung über die Tauchtauglichkeit bei Morbus Menière – aus Sicht der HNO-Heilkunde und unter Berücksichtigung aktueller medizinischer Standards.
Was ist Morbus Menière?
Morbus Menière ist eine Erkrankung des Innenohrs, die typischerweise durch folgende Symptome gekennzeichnet ist:
- Anfallsartiger Drehschwindel (meist plötzlich, oft verbunden mit Übelkeit und Erbrechen)
- Tinnitus (Ohrgeräusche)
- Fluktuierende Hörminderung (vor allem im Tieftonbereich)
- Einseitiger Druck im Ohr
Die Ursache liegt vermutlich in einer Volumenzunahme der Endolymphe im Innenohr (Endolymphhydrops), was zu einer Reizung der empfindlichen Sinnesstrukturen führt.
Der Verlauf ist schubweise, mit Phasen völliger Beschwerdefreiheit zwischen den Anfällen. Es kann Jahre dauern, bis sich ein chronisches Stadium mit bleibender Hörminderung oder Gleichgewichtsproblemen entwickelt – muss aber nicht.
Tauchen – eine besondere Herausforderung für das Gleichgewichtsorgan
Tauchen stellt besondere Anforderungen an den Körper – insbesondere an das Gleichgewichts- und Hörorgan. Das liegt nicht nur an der Schwerelosigkeit und dem veränderten Orientierungssinn unter Wasser, sondern auch an den Druckverhältnissen:
- Beim Ab- und Auftauchen ändern sich die Druckverhältnisse im Mittelohr schnell. Ein funktionierender Druckausgleich (über die Ohrtrompete) ist essenziell.
- Das Innenohr reagiert empfindlich auf Druckveränderungen. Bei Morbus Menière ist diese Reaktionsfähigkeit potenziell gestört.
- Der plötzliche Beginn eines Schwindelanfalls unter Wasser kann zu Panik führen – mit lebensbedrohlichen Konsequenzen.
Morbus Menière und die Tauchtauglichkeit – eine Einzelfallentscheidung
Es gibt keine pauschale Regel, die Tauchen bei Morbus Menière grundsätzlich erlaubt oder verbietet. Vielmehr handelt es sich um eine individuelle Risikobewertung. Dabei sind mehrere Faktoren ausschlaggebend:
1. Dauer der Beschwerdefreiheit
Ein Zeitraum von mehreren Jahren ohne Schwindelanfälle spricht für eine stabilisierte Erkrankung. Die meisten Taucherärzte sehen mindestens ein bis zwei Jahre Anfallsfreiheit als Voraussetzung an – manche auch länger.
2. Status des Gleichgewichtsorgans
Ein vestibulärer Funktionstest gibt Aufschluss darüber, ob das betroffene Gleichgewichtsorgan dauerhaft geschädigt ist oder (noch) aktiv reagiert. Ein beidseits ausgeglichenes System ist für die Orientierung unter Wasser essenziell.
3. Hörvermögen und Druckausgleich
Eine erhaltene Druckausgleichsfunktion und ein ausreichendes Hörvermögen sind weitere Voraussetzungen. Schwerhörigkeit allein ist nicht immer ein Ausschlusskriterium – ein einseitiger Verlust kann eventuell kompensiert werden, solange die Orientierung erhalten bleibt.
4. Psychische Belastbarkeit
Ein möglicher Schwindelanfall unter Wasser kann nicht nur körperlich, sondern auch psychisch überfordernd sein. Wer sich auch in Stresssituationen ruhig und kontrolliert verhält, reduziert das Risiko durch Panikreaktionen.
Was sagen die Fachgesellschaften?
Die Gesellschaft für Tauch- und Überdruckmedizin (GTÜM) empfiehlt, bei chronischen Innenohrerkrankungen wie Morbus Menière grundsätzlich keine Tauchtauglichkeit zu bescheinigen, solange Anfälle nicht eindeutig ausgeschlossen werden können. Sie stützt sich dabei auf die potenzielle Gefahr eines plötzlichen Ausfalls der Orientierung oder das Risiko einer Perilymphfistel (Innenohrbarotrauma) durch Druckbelastung.
Allerdings wird auch betont, dass bei stabiler Krankheitsphase und vollständig unauffälligem Befund eine Einzelfallentscheidung getroffen werden kann – idealerweise unter Einbeziehung eines erfahrenen HNO-Arztes und eines tauchmedizinisch qualifizierten Facharztes.
Empfehlungen für Betroffene, die wieder tauchen möchten
Wenn Sie an Morbus Menière leiden und über eine Rückkehr zum Tauchen nachdenken, sollten folgende Punkte unbedingt beachtet werden:
- Tauchtauglichkeitsuntersuchung Eine aktuelle tauchmedizinische Untersuchung nach den Empfehlungen der GTÜM ist obligatorisch. Dabei sollten auch spezifische vestibuläre Tests (z. B. Videonystagmographie, Kopfimpulstest) durchgeführt werden.
- Keine Symptome über mindestens 24 Monate Dies gilt als Mindestanforderung. Je länger die anfallsfreie Zeit, desto geringer das Risiko – aber ein Restrisiko bleibt.
- Begleitung durch erfahrenen Tauchpartner Niemals alleine tauchen. Der Buddy sollte über die Erkrankung informiert sein und in Notsituationen handeln können.
- Nur in kontrollierten Gewässern Keine Tauchgänge in Strömung, Kälte oder großer Tiefe. Optimal sind flache, ruhige Gewässer mit guter Sicht.
- Sofortiger Tauchstopp bei Symptomen Schon bei leichten Symptomen (Druckgefühl, leichter Schwindel) sollte der Tauchgang beendet werden.
Welche Risiken bleiben – trotz Anfallsfreiheit?
Selbst wenn über Jahre kein Schwindelanfall mehr aufgetreten ist, kann nicht mit absoluter Sicherheit ausgeschlossen werden, dass es zu einem erneuten Schub kommt. Folgende Komplikationen wären unter Wasser besonders problematisch:
- Plötzlicher Drehschwindel mit Orientierungsverlust
- Übelkeit und Erbrechen unter Wasser
- Panikreaktion durch Desorientierung
- Hörverlust oder Innenohrbarotrauma durch gestörte Druckverhältnisse
Da sich solche Symptome im Wasser dramatisch verschärfen können, raten viele Fachgesellschaften zur Zurückhaltung.
Fazit
Morbus Menière und Tauchsport sind keine automatisch ausschließenden Gegensätze – aber die individuelle Situation muss sorgfältig geprüft werden. Ein Zeitraum von vier Jahren ohne Schwindelanfall ist ermutigend, jedoch kein Freibrief. Die Entscheidung über die Tauchtauglichkeit muss in enger Absprache mit spezialisierten Ärzten getroffen werden. Wer sich bewusst mit den Risiken auseinandersetzt, kann eventuell unter bestimmten Bedingungen wieder ins Wasser zurückkehren – mit Sicherheit und Verantwortung.
Bitte beachten Sie: In meiner HNO-Praxis führe ich keine tauchmedizinischen Untersuchungen durch, erstelle keine Gutachten und stelle keine Bescheinigungen zur Tauchtauglichkeit aus. Dieser Artikel dient ausschließlich der allgemeinen Information und ersetzt keine individuelle ärztliche Beratung.
Quellen:
- GTÜM – Empfehlungen zur Tauchtauglichkeit bei Innenohrerkrankungen, Stand 2023
- Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde: Leitlinie Morbus Menière (AWMF-Register-Nr. 017-078), Stand 2021
- Tauchmedizin: V. Knauth, Springer Verlag, 2020
- European Committee for Hyperbaric Medicine (ECHM): Empfehlungen zu Innenohrrisiken beim Tauchen, 2022